Das Geschenk

Das Geschenk
Bei uns zuhause war es üblich, dass wir Kinder mit unserer Mutter ein Fragespiel spielten, um die Weihnachtsgeschenke herauszubekommen, frei nach dem Motto „Was bin ich?“

Das sollte man wissen, denn es geschah folgendes:

Also Weihnachten stand an, und mein Bruder eröffnete den Frage-Reigen beim Adventsfrühstück, des 1. Advent.
14 war er damals, und als „der Kleine“ oft einen Tick schneller als ich.

„Du Mamaa!“

„Ja, Schatz?“

„Du Mamaa, was krieg ich denn zum Geburtstag und zu Weihnachten?“

Mein Bruder hatte blöderweise am 15. Dezember Geburtstag, was mich alljährlich in schwere Kalamitäten brachte.

Mama lächelte: „Das wirst du dann schon sehen!“

„Ach Mamschi! Du kannst es mir ruhig sagen, ich vergess es auch ganz schnell wieder!“

„Naja, wenn du es vergisst …“

Sie ließ den Satz bedeutungsvoll in der Luft hängen, und er spitzte die Ohren.

„ … dann brauch ich es dir ja gar nicht sagen!“

„Och nö, Mamschilein! Gib mir bloß einen Tipp, nen ganz kleinen!“

Ich knuffte ihn freundschaftlich in die Seite. „Lass gut sein, Bruderherz! Du wirst es schon noch erleben – Am Burzentag … oder eben an Weihnachten!“

Er sah mich an wie ein waidwunder Dackel.

„Mönsch Schwester! Los hilf mir mal!“

Ich grinste überlegen. Beim letzten Mal hatte er mich mit einem Geschenk, „das die Aggregatszustände änderte“ hinters Licht geführt. Ich hatte es nicht vergessen.

Gut, die Antworten auf die Fragen konnten kryptisch sein. Trotzdem! Auf ein Parfüm war ich damals nicht gekommen. Nun konnte er sich selber helfen!

„Och Mamma, nun sag doch! Ist es groß?“

„Groß? Was ist schon groß? Wie groß?“

„Naja, so groß … wie … ein Auto?“

Sie schüttelte den Kopf über die Ideen ihres Kindes. Ein Auto! Was für ein Blödsinn. Ich aber begriff sofort, worauf er hinauswollte. Sein sehnlichster Wunsch war ein Mofa!

„Nein, so groß wie ein Auto ist es nicht!“

Er knirschte mit den Zähnen, denn direkt fragen konnte er nicht. Ein Mofa lag für uns ziemlich weit jenseits von Gut und Böse, aber träumen durfte man ja schließlich.

Gut, dieses Frage- und Antwortspiel wiederholte sich in Variationen fortan bei jedem weiteren Familienfrühstück adventssonntäglich, bis zu seinem Geburtstag. Nachdem da das ersehnte Mofa nicht unter den Gaben war, wurde er deutlicher.

„Mamaa, sag mal, kann man mein Geschenk vielleicht …“

Nach einer Weile bemerkte Mama, dass es nicht weiter ging. „Vielleicht … was?“

„Na ja, kann man es vielleicht … in … in die Garage stellen?“

Mutter sah kurz und etwas irritiert auf von dem, was immer sie tat. „Klar! Wenn du meinst, kannst du es auch in die Garage stellen!“

Die Sonne ging auf in seinem Gesicht. Mein Bruder sprang auf wie von der Tarantel gebissen. Er bekam ein Mofa zu Weihnachten, das stand für ihn unverbrüchlich fest. Mama hatte es ihn soeben durch die Blume wissen lassen. Sie erfüllte seinen größten Traum.

Ich war mir da nicht so sicher, und auch Mama schaute verunsichert, hatte aber sofort wieder anderes zu tun.

Er dagegen schwebte wie auf Wolken. Am nächsten Morgen erzählte er all seinen Kumpels, dass er ein Mofa zu Weihnachten bekäme!

Meine leisen Andeutungen auf die pekuniäre Familiensituation überhörte er geflissentlich, und langsam steckte er mich mit seinem Enthusiasmus an. Vielleicht bekam er ja wirklich ein Mofa!

Und dann war er da, der ersehnte Tag. Heiligabend!

Aber zuerst mussten wir noch den Gänsebraten und die Streitereien, ob er denn nun gelungen sei oder nicht, über uns ergehen lassen.

Mom stand den ganzen Tag in der Küche, bloß für dieses Mistding, das weder mein Bruder noch ich mochten, und Großmutter motzte:

„Nach Gans schmeckt das aber nicht!“

Großvater assistierte: „Und nach Beifuß schmeckt es auch nicht!“

Bei uns Kindern sah sie „lange Zähne“, denn wir hassten das viele Fett.

„Da stellt man sich den ganzen Tag in die Küche und kann es keinem Recht machen!“ Sie war enttäuscht, und ich fragte mich, wie viele Weihnachtsfeste wir noch mit fetter Gans und Gemotze über uns ergehen lassen müssten, bis sie bereit war, uns Bratwürste zu servieren?

Aber dann kam endlich der große Moment.

Wir hoben die Tafel auf und gingen vom Ess- ins Wohnzimmer. Ein wunderbarer Christbaum und viele Päckchen – aber weit und breit kein Mofa. Das hätte man ja wohl auch verpackt nicht übersehen können, oder?

Nur von irgendwo kam ein Geräusch. Ich sah mich um. Hatte Mama vergessen den Backofen auszustellen, und der piepte jetzt?

Mama lächelte selig, und dann überreichte sie meinem Bruder sein Geschenk. Ein großes rundes Etwas … das piepte!

Er entfernte das darüber gelegte Geschenkpapier und schaute … in einen Vogelkäfig.

„Er heißt „Gipsy“!“, erklärte Mama freundlich. Sie merkte nicht, dass mein Bruder innerlich einen halben Meter schrumpfte.

„Aber, aber, aber … Mom, du hast doch gesagt … du hast doch gesagt, ich könne es … in die Garage … GARAGE … stellen?“

„Naja, das kannst du doch. Ist halt bloß nicht unbedingt sinnvoll!“

„Ja, danke!“, krächzte er. „Sehr schön!“

Und damit hatte sich dieses Weihnachtsfest erledigt.

„Gipsy“ wurde mein Vogel, und als die Schule wieder begann, hatte mein Bruderherz sich schon wieder ziemlich gut im Griff. Nur nachmittags kam er in mein Zimmer.

„Hi Gipsy! Hi Schwester!“ Er warf sich auf mein Bett.

„Is was?“ Ich dachte nicht mehr daran, und er hätte es vielleicht auch abgehakt, wenn nicht … ja, wenn er nicht vorher alle Jungs informiert hätte.

Die gesamte männliche Hälfte der Klasse hatte Spalier gestanden, um das neue Mofa zu begutachten.

„Was, du hast kein Mofa …? Du warst doch so sicher! – Ja aber … was hast du denn dann bekommen?“

Der Spott über den Kanarienvogel, mit dem er dann ja zur Schule reiten könne, traf ihn mindestens genauso, wie der Vogel selber.

Ich tröstete ihn, so gut ich konnte, aber was konnte ich schon tun?

Nur eins beschlossen wir gemeinsam: Unsere Mutter sollte nie erfahren, was sie mit ihrer unbedachten Antwort angerichtet hatte, denn eigentlich wussten wir es ja beide: Seit Vater uns mit seiner Neuen verlassen hatte, war ein Mofa einfach jenseits von Gut und Böse.



© Claire